72.
„O süße Mutter,
Ich kann nicht spinnen,
Ich kann nicht sitzen
Im Stüblein innen
Im engen Haus;
Es stockt das Rädchen
Es reißt das Fädchen
O süße Mutter
Ich muß hinaus.
„Der Frühling gucket
Hell durch die Scheiben;
Wer kann nun sitzen,
Wer kann nun bleiben
Und fleißig sein?
O laß mich gehen,
Und laß mich sehen,
Ob ich kann fliegen
Wie Vögelein.
„O laß mich sehen,
O laß mich lauschen,
Wo Lüftlein wehen,
Wo Bächlein rauschen,
Wo Blümlein blühn.
Laß sie mich pflücken,
Und schön mir schmücken
Die braunen Locken
Mit buntem Grün.
„Und kommen Knaben
Im wilden Haufen;
So will ich traben,
So will ich laufen,
Nicht stille stehn;
Will hinter Hecken
Mich hier verstecken,
Bis sie mit Lärmen
Vorüber gehn.
„Bringt aber Blumen
Ein frommer Knabe,
Die ich zum Kranze
Just nöthig habe;
Was soll ich thun?
Darf ich wohl nickend,
Ihm freundlich blickend,
O süße Mutter,
Zur Seit' ihm ruhn?“