Morgen - Abendstern.

Ich schaut' am Neujahrsabend
  Zum Himmel aus, und sah:
  Im Westen stand so labend
  Der Stern der Liebe da.
  Ich blickt' am Neujahrsmorgen
  Dann wieder aus, und sieh'!
  Am Himmel wohlgeborgen
  Stand er im Osten hie.
Du hast dich wohl betrogen,
  Spricht ein gelehrter Mann;
  Weil nie am Himmelsbogen
  Geschehn dergleichen kann:
  Es läßt der Stern entweder
  Dort oder hier sich sehn,
  Doch kann er nicht in jeder
  Gestalt zugleich bestehn.
Das weiß ich selbst am besten,
  Daß nie euch weisen Herrn
  Zugleich in Ost und Westen
  Erscheint der Liebe Stern.
  Der aber, den ich meine,
  Der steht an jedem Ort,
  Und in viel heller'm Scheine
  Als der am Himmel dort.
Der Stern, daß ich es sage,
  Ein Stern ist solcher Art,
  Wie ich im Busen trage
  Die Liebe hoch und zart;
  Der hat mich angefunkelt
  Wohl zu des Jahres Schluß,
  Und strahlet unverdunkelt
  Mir auch den Morgengruß.
Der Stern hat mir verheißen,
  Daß bei des Himmels Drehn
  Und bei der Jahre Kreisen
  Er nie will untergehn;
  Er will, wie eins sich neiget,
  Stets funkeln hell und klar,
  Und wie ein andres steiget,
  Noch immer heller gar.
O sel'ge Doppelhelle
  Von wunderbarem Schein,
  An jedes Jahres Schwelle
  Mir leuchtend aus und ein!
  Nicht auf und nieder gehend,
  Bald nah' und bald auch fern,
  Nein, fest im Wechsel stehend,
  Ein Morgenabendstern.
  Wenn nun das ganze Leben
  Verrollt ist wie ein Jahr,
  Sollst du im Abend eben
  Noch stehn so hell und klar;
  Und wenn ein neuer Morgen
  Aufdämmert aus der Nacht,
  So grüß' mich wohlgeborgen
  Zuerst in deiner Pracht.