Der Doppeltsichtige.

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Die Wahrheit siehst du oft von einem Schein umronnen,
  Gleich einem Doppelmond und ähnlich Nebensonnen.
Dann greife sacht heraus die Wahrheit aus dem Schein,
  Schlag aber ungeschickt nicht mit dem Prügel drein.
Sonst wird die Wahrheit mit dem Schein zugleich zerrinnen,
  Verlieren wirst du den, und jene nicht gewinnen.
Ein lang entfernter Freund ist zu Besuch gekommen
  Dem andern, und von ihm mit Freuden aufgenommen.
Wir leeren, spricht der Wirth, nun gleich die Willkommflasche,
  Daß sie der Trennung Rost uns aus der Seele wasche.
Die Flasch' ist aufgespart für solchen Freund allein;
  Nur eine ist's, gefüllt mit ächtem Freundschaftswein.
Geh' in's Gewölb, o Knab', auf oberstem Gesims
  Steht das Gefäß allein, geschwind herunter nimm's!
Er geht, und kommt und bringt die Flasche nicht herbei;
  »Herr, welche nehm' ich denn? es stehn dort ihrer zwei.«
Da schämt der Wirth sich, daß er was verläugnet habe
  Dem Gast, und übel wird von ihm geschmäht der Knabe.
Scharf sieht der Fremde dem in's Aug', und lächelt: Richtig!
  Zwei Flaschen sah er dort, denn er ist doppelsichtig.
Zwei Augen hat der Mensch, doch sieht er von Natur,
  Wenn beide sind gesund, mit beiden eines nur.
Wo aber Störung ist von außen oder innen,
  Vorspiegeln doppeltes ihm die entzweiten Sinnen.
Nur die Besinnung, nicht der Augennerv' allein,
  Löst in die Einheit auf den irren Doppelschein.
Wenn starr, indem du in Gedanken dich verloren,
  Du in ein Licht siehst, wird ein zweites draus geboren;
Das hählich tritt heraus und ihm zur Seite steht,
  Und wenn du dich besinnst, zurück in's eine geht.
So wäre, hätte recht der Knabe sich besonnen,
  Die andre Flasche in der einen auch zerronnen.
Ja, spricht der Wirth, damit hat's seine Richtigkeit,
  Doch heilen will ich ihm die Doppelsichtigkeit.
Hier, Knabe, nimm den Stock, geh' in's Gewölb und trage
  Die eine Flasche her, die andere zerschlage.
Er geht und wieder sieht er seinen Augentrug,
  Der auch nicht eh'r zerging, als bis er ihn zerschlug.
Mit seinem Stocke schlug er drein, zerschlug die eine
  Der Flaschen, und ihm blieb nun hinzutragen keine.
»Die eine hab' ich, Herr, wie du befahlst, zerschlagen,
  Nun ist gar keine dort, und nichts bring' ich getragen.«
Sie mochten lachen nun um den zerfloss'nen Schein,
  Es war ein trockner Scherz für den vergoss'nen Wein.