Idris, d. i. Henoch.

Wisset ihr, wie Idris-Enoch
  Eingang fand lebend'gen Leibes
  Dort, wo einging Keiner je noch,
  Den gebar der Schooß des Weibes?
Idris war der erste Schneider
  Wie der erste Schriftgelehrte;
  Jeden Tag macht er drei Kleider,
  Die den Nachbarn er verehrte.
Jede Nacht schrieb er drei Bücher,
  Die er Schülern gab am Morgen;
  Seine Schriften, seine Bücher
  Konnten Groß und Klein versorgen.
Abends kam ein Himmelsbote,
  Daß der Mann nicht Hungers starb,
  Und versorgte ihn mit Brote,
  Daß er selber nicht erwarb.
Seines Ruhmes Lilienstengel
  Duftet herrlich durch die Luft
  Weithin, selbst der Todesengel
  Hat vernommen diesen Duft.
Nicht die Zeit kann er erwarten,
  Wo er heim ihn holen soll
  Zu dem Paradiesesgarten,
  Noch ist nicht die Stunde voll.
Spricht er zu dem Herren, ohne
  Dessen Wink er nie darf gehn
  Einen Schritt: »Die Lilienkrone
  Möcht' ich in der Nähe sehn.
»Denn von Erden nie vernommen
  Hab' ich solchen Wohlgeruch;
  Eh' ich holen darf den Frommen,
  Laß mich zu ihm zum Besuch.«
Spricht der Herr: »Auf den Beding,
  Daß dein Odem sei gelind,
  Und du sein ihn jedem Ding
  Gleichest einem Menschenkind!«
Und der Tod in Lebenshüllen
  Kommt zu Idris zum Besuch,
  Sieht ihn den Beruf erfüllen,
  Tags am Kleid und Nachts am Buch;
Wie er, ohne Laut zu preisen
  Gott, thut keinen Nadelstich,
  Mit Gebeten, aber leisen,
  Jeden leisen Federstrieh
Von des dunklen Gastes Nähe
  Läßt der Fromme sich nicht stören,
  Und, als ob er ihn nicht sähe,
  Schreibt und näht er ohn' Aufhören.
Aber als mit Himmelsbrot
  Abends ihm der Engel kam,
  Aß er und dem Gast er bot,
  Der nicht einen Bissen nahm.
Morgens als die Sonn' erwachte,
  Und er selbst von kurzem Schlaf,
  Den er über Büchern machte,
  Und den Gast noch bei sich traf,
Sprach er zu ihm: »Freund der Frommen,
  Wie dein Nam' auch heißen mag,
  Willst du mit spazieren kommen?
  Denn heut ist ein Feiertag«
Und zusammen, gehn sie wacker,
  Doch der Gast hat sich gebückt,
  Im vorübergehn am Acker
  Reife Aehren abgepflückt.
Und es ist, als ob die Halmen
  Seufzen in der Todesstunde,
  Wie er will die Körner malmen
  Mit dem stumpfen Zahn im Munde.
Idris nach dem Gaste spähen
  Und verwundert spricht er so:
  »Himmelsbrot hast du verschmähet,
  Und nun kaust du Körner roh«
Spricht der Gast: »Das Brot des Lebens
  Darf ich nicht entziehn den Frommen;
  Doch die Aehre seufzt vergebens,
  Deren Stunde ist gekommen.«
»»Und du bist?«« »Nicht mehr verholen
  Ist es dir, der Tod bin ich.«
  »Und du kamst mich abzuholen?
  Oder zu besuchen mich?««
»Heut' kam ich nur zum Besuch,
  Und mich hat statt Brot gelabt
  Deiner Frömmigkeit Geruch,
  Doch nun sei von mir begabt.
Denn für dich zu Gastgeschenken
  Gab mir Gott drei Wünsche mit;
  Säume nicht, dich zu bedenken,
  Eh' ich meiner Wege schritt.
Denn es warten aller Orten
  Die und jene schon auf mich;
  Heute. hol' ich jene dorten,
  Und ein andermal hier dich«
Idris hat sich schnell bedacht:
  »Gieb mir, Bruder, deinen Kuß,
  So daß ich, vom Tod erwacht,
  Gott neu lebend preisen muß.«
Von dem Kusse sinkt er nieder,
  Und durch Gottes Gnadenhauch
  Steht er auf zum Leben wieder,
  Und den Tod selbst freut es auch.
»Wie hast du den Kelch befunden?«
  »»Bittrer, als ich mir's gedachh
  Bitter so, daß süßer munden
  Er mir nun das Leben macht.
Und ich schwöre, daß im Leben
  Ich nicht wieder sterben will.
  Doch den zweiten Wunsch hör' eben,
  Den ich jetzo werben will:
Laß mich schauen von der Mauer
  In den Ort der Buß und Pein,
  In die Trauer, in die Schauer
  Der Verlornen Schaar hinein;
Daß ich möge freud'ger preisen
  Ueberschwang von Gottes Gnaden
  Nach gesehenen Beweisen,
  Wie auch kann aein Zorn beladen««
Und der Tod, er läßt ihn blicken
  In den dunklen Aufenthalt,
  Wo nicht Wärm' noch Frucht erquicken,
  Hier zu heiß und dort zu kalt;
Wo die Joche, wo die Ketten
  Schuld'ge Nacken schwer belasten,,
  Und die Dornen und die Kletten
  Schlimme Betten sind zum Rasten.
Er hat bald genug gesehn.
  »Höre nun die letzte Bitte!
  Laß durch's Paradies uns gehn,
  Selig durch der Sel'gen Mitte«
Und sie wandeln durch den Garten,
  Unter dem die Ströme fließen,
  Wo die Früchte aller Arten,
  Wie sie jeder wünscht, ersprießen;
Wo die Quellen Schlummer tauschen,
  Und die Schatten Ruhe hauchen,
  Wo die Weine nicht berauschen,
  Und die Wonnen nicht verrauchen.
Und schon soll er wieder scheiden,
  Eh' er all die Lust besehn;
  Doch am Stamm der Moschusweiden
  Läßt er den Pantoffel stehn.
Angekommen vor dem Thor,
  Spricht er: »Freund, hier warte mein!
  Weil ich meinen Schuh verlor,
  Muß ich noch einmal hinein.«
Drinnen ist er, doch hervor
  Läßt er sich nicht wieder holen;
  Draußen ruft der Tod vor'm Thor,
  Er antwortet: »Gott befohlen!
Gott im heil'gen Koran spricht:
  Wer nicht hat den Tod gekostet,
  Kommt in meinen Garten nicht;
  Doch mich hat dein Hauch durchfrostet.
Weiter spricht er: Ewig drin
  Sollt ihr bleiben unvertrieben.
  Da ich nun hier innen bin,
  Hält mir Gott, was er geschrieben.«
Schreit der Tod zu Gottes Thron,
  Doch ein Säuseln kommt geflossen:
  »Idris ist mein lieber Sohn;
  Was er that, hatt' ich beschlossen.«